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Belletristik

Nancy Huston:
Ein winziger Makel


Der 2008 auf Deutsch erschienene Roman der gebürtigen Kanadierin Nancy Huston ist vieles zugleich: Raffiniert konstruierter Familienroman, Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte, psychologische Studie. Sein Thema ist das Schweigen, das Liebe und Nähe auffrisst – über Generationen hinweg. Der Roman folgt der Spur des Schweigens in die Vergangenheit.

 

2004. Sol ist ein verwöhnter, egozentrischer Sechsjähriger, der sich für etwas ganz Besonderes hält. Die Sonne, um die seine Mutter kreist. Bereits in seinem zarten Alter weist er Symptome zwanghaften Verhaltens auf – besonders deutlich beim Essen: Alle Zyklen müssen kontrolliert werden. Es fällt schwer ihn zu mögen. Terror, Irakkrieg und ein unkontrollierter Internet-Konsum haben einen Hass auf alles Arabische in ihm wachsen lassen, den er mit seinem Vater Randall teilt.

Sol liebt seine Urgroßmutter Erra, die Sängerin mit der wundervollen Stimme und den Liedern ohne Worte. Seine Großmutter Sadie, die konvertierte und orthodoxe Jüdin, kann er nicht leiden. Sadie, die auf der Suche nach ihren Wurzeln ihr Leben der Erforschung des Lebensborn und der geraubten Kinder in Nazi-Deutschland widmet, weil sie von ihrer Mutter Erra keine Antworten bekommt.

1982. Der sechsjährige Randall lernt hebräisch. Seine Mutter Sadie will mit ihrer Familie nach Israel, um in den Archiven der Universität Haifa zu arbeiten. Randall soll dort zur Schule gehen. Ein palästinensisches Mädchen wird seine Freundin – und diese Jungenliebe schlägt um in Hass, als seine Mutter mit Ausbruch des Krieges einen Autounfall erleidet und fortan an den Rollstuhl gefesselt ist.

1962. Die sechsjährige Sadie lebt bei ihren Großeltern in Kanada. In einem Klima der Angst. Ihre Großeltern sind streng und kalt. Sadie fühlt sich dick und ungeschickt, nicht in der Lage den Ansprüchen der Großmutter gerecht zu werden, und wünscht sich nichts mehr, als bei ihrer Mutter Erra leben zu dürfen. Dieser Traum wird Wirklichkeit – und zerbricht, als plötzlich Janek vor der Tür steht...

1944/45. Kristina, die sich später Erra nennen wird, erzählt von ihrem Leben in der deutschen Familie und lüftet das letzte große Familiengeheimnis.

Ein Muttermal verbindet diese vier Generationen und wird zum roten Faden der Erzählung – ein Mahnmal der Verbundenheit ihrer Schicksale. Bei jedem seiner Träger sitzt es an einer anderen Stelle des Körpers – für jeden der vier hat es eine andere Bedeutung: Erra liebt es, es hilft ihr beim Singen. Für Sadie ist es der Feind, der ihr die Schuld an ihrer Misere gibt. Randall sieht es als kleine Fledermaus, die auf seiner Schulter sitzt und ihm Ratschläge ins Ohr flüstert. Für Sol ist es ein störender Makel.

Das Versagen des rationalen Verstandes wird deutlich, als der Versuch, Sols Mal chirurgisch entfernen zu lassen, Komplikationen nach sich zieht und eine Narbe hinterlässt, deutlicher sichtbar als das Mal.

 

Nancy Hustons Roman fasziniert durch seine ruhige, klare und liebevolle Sprache, die einen auch dann weiter lesen lässt, wenn die Sympathie für die Protagonisten zu schwinden beginnt. Ein Roman voller Seele, traurig und klug zugleich. Und eine Warnung: Das Schweigen frisst die Liebe und zerstört das Leben.

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